Was für ein Jahr! Dass ich nochmal mit einem ähnlichen – ja noch tieferem – Commitment an einen Sport herangehen würde, wie seinerzeit 2005 ans Laufen, hätte ich nicht erwartet, als ich Ende Januar mein Gravelbike in Empfang nahm.
Nach nur wenigen Fahrten im Februar hat sich dann ab Ende März eine unglaubliche Freude am Radfahren eingestellt. Ehe ich es mich versah, stieg meine Sattelzeit auf 5, 10, 15 und mehr Stunden pro Woche. Im Mai fuhr ich das erste Mal einhundert Kilometer am Stück Straße. Am 6. Juni ging ich — ohne große Ambitionen, überhaupt die gesetzten 120 Gravel-Kilometer zu schaffen — bei Saarvertikal an den Start und beendete den Tag mit 152 Kilometern in den Beinen glücklich. Zwei Wochen später folgte die erste Bikepackingtour mit Theo zum Lac de Madine auf neuen Straßenreifen, im Juli eine 200km Runde und dann ein dreitägiges Gravel-Bikepackingabenteuer zu zweit in die Vogesen. Auf der Fahrt zum Lac habe ich das erste Mal halb im Scherz zu Theo gemeint, dass das Saarlandschwein doch ein schönes Saisonziel wäre.

Nachdem die Teilnahme am Orbit 360 aufgrund großer Hitze ins Wasser (Wortwitz!) fiel, stand als fixes Vorhaben nur noch die von Theo und mir gescoutete „Am Rande der Stadt“-Graveltour rund um Saarbrücken auf dem Programm, die als Gruppenausfahrt ein voller Erfolg wurde.

Aber in den letzten Wochen spukte immer noch dieser Gedanke im Kopf herum, dieses Saarlandschwein mal selbst durchzuziehen. Und so setzte ich mir Anfang September das Ziel, noch vor Herbstbeginn den Versuch zu wagen. Mir war klar, nur an einem der letzten halbwegs schönen Septembersamstage würde bei meiner Kondition überhaupt die Möglichkeit bestehen, das Ding zu reißen, bevor es zu kalt und zu lange dunkel würde, auch wenn ich erheblich daran zweifelte, dass ich es schaffen kann. Aber probieren musste ich es einfach.

Also fuhr ich um fünf zu Hause los und startete um fünf nach fünf unter der Westspange den Tracker zum Saarlandschwein. Bei unter zehn Grad mit Beinlingen, langem Trikot und Warnweste ausgerüstet, war es trotzdem widerlich kalt, als ich mit gemäßigter Kadenz in Klarenthal in Richtung Warndt abbog. Die ersten 40 Kilometer fingen schon toll an, weil ich alle Viertelstunde pinkeln musste bei der Scheißkälte. Ich hatte gefühlt ein Kilo herzhafte, süße und salzige Ernährung eingepackt und konnte gleich nach den ersten 30 Kilometern schonmal das rauskramen von Futter und Verspeisen während der Fahrt üben. Die Dampfe in der Trikottasche konnte ich auch während der Fahrt ab und an Dampfen, ohne Pause machen zu müssen. Dies sorgte im Tagesverlauf noch für irittierte Blicke von Anwohnern am Streckenrand. Am Sender in Felsberg gab es einen schönen Sonnenaufgang über einem vernebelten Saartal. Beim Wasserstopp am Biringer Friedhof gab es überraschenderweise frischen Kaffee von Papa (toll). Hier konnte ich dann auch endlich die Lichter ausschalten.
Warum der Streckenplaner dann eiskalt die gewonnenen Höhenmeter wieder vernichtet, indem die Strecke nach Büdigen hinunterführt, statt an Steine an der Grenze entlang ohne Höhenverlust bis Büschdorf zu laufen, erschließt sich mir nicht. Egal. Allmählich überholten mich in meiner gemächlichen Fahrweise die ersten Rennradler und bei ätzendem Verkehr ging es wieder hinauf bis Büschdorf und dann rasant runter ins Moseltal. Die Sonne konnte sich allmählich durchsetzen und die Beinlinge konnten eingepackt werden. Um 11:15 genau im Zeitplan in Freudenburg einen Frikadellenweck (Regelkonform) verspeist und einen Liter Mezzomix weg geknallt. Ab hier bei wunderbarem Wetter wieder luftiger unterwegs, begann dann kurz darauf die große Tortur „Hochwald“. Der Anstieg nach Britten, wo scheinbar alle Quadfahrer im Saarland sich zu einem Event getroffen hatten, kostete ganz schön Kraft. Und das wurde nicht besser. bis hinter Nonnweiler steckten jetzt die miesesten Anstiege in schneller Folge in der Strecke. In Nonnweiler kam das erste kleine Tief. Füße schmerzen nach 170 km. Ich musste eine ungeplante Pause einschieben. Meinem eigentlichen Zeitplan hing ich hier etwa eine Stunde hinterher, wenn auch zumindest die berechnete Fahrtzeit ganz gut stimmte. Weiter nach Türkismühle zum Döner und nach dem Essen in der Abendsonne ein kleines Powernap gehalten. Vorsorglich ne Ibu eingeworfen. Jetzt mit 180 Kilometern war der letzte Anstieg des Hochwalds bis nach Freisen noch die letzte Herausforderung, bevor die Strecke wieder gutmütiger werden würde. Als ich von Freisen ins Ostertal runter rolle und die 200 vollmache weiß ich, dass ich das Ding durchziehen werde, wenn nicht ein größeres Unglück passiert. Noch zwei stramme Anstiege aus dem Ostertal über Münchwies bis auf den Höcher Berg sind dann auch recht schnell gemacht. Man entwickelt eine unwahrscheinliche Gelassenheit auf der Langstrecke. Sehr meditativ ist das alles: Podcasts hören, ständig was snacken, zwischendurch dampfen, fahren, dumm in die Landschaft kucken – herrlich. Mental ging es mir die ganze Zeit gut, bis auf kleinere körperlich bedingte Zwangspausen konnte ich gut Strecke machen. Ab Frankenholz eine wunderbare lange Abfahrt bis nach Homburg war die verdiente Erholung nach dem Drecksberg. Kurz vor Blieskastel ging die Sonne unter und meine Lampen wieder an. Es wurde instant kühl. In Blieskastel stärkte ich mich nochmal an der Tankstelle und ging dann an die letzten drei Anstiege der Tour. Böckweiler: easy, schöne Fotos vom Bliesgau in der Dämmerung. Brenschelbach: easy, jetzt ist nur noch ein letzter Berg zu schaffen. Medelsheim: knochenhart, die Steigung hat es in sich. Oben bin ich geschafft aber überglücklich. Vor vier Monaten hatte ich genau hier bei meinem allerersten hunderter Mittagspause gemacht. Völlig surreal, hier zu stehen, mit 260km in den Beinen. Ich rolle nach Gersheim runter. Es wird bitterkalt (mein Wahoo sagt mir später durch die Aufzeichnung, dass es locker fünf Grad wärmer ist, als am Morgen, aber es fühlt sich viel kälter an). Auf dem Bahndamm und an der Blies entlang vertilge ich 200g Salzerdnüsse, eine Klappschmier, zwei Landjäger und zwei Stück Reiskuchen. Hilft alles nix, bleibt eklig kalt. Endlich Saargemünd. Ans übliche Heimballern an der Saar entlang ist nicht zu denken. Mehr als 23km/h sind nicht mehr drin. Ich kämpfe noch die letzte halbe Stunde und schließe den Track um 23:40 unter der Westpange. Ein überwältigendes Glücksgefühl.

Als mir Carsten vom Radsalon 2016 vom Saarlandschwein erzählt hat, fand ich die Idee völlig irre. Heute hab ich’s selbst gemacht 🙂